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Ein liquid-demokratisches Organ ist möglich!

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Die Kinderfresser-Bar: Ein liquid-demokratisches Organ ist möglich!

Donnerstag, 17. Februar 2011

Ein liquid-demokratisches Organ ist möglich!

Was ist dran an der urban legend, dass Liquid Democracy mit dem Parteiengesetz nicht vereinbar sei und daher nicht als Organ in der Satzung verankert werden könne? Zum Anlass von Piratenkontrolle und Piratenpapieren eine unaufgeregte, rechtliche Analyse.

Dem geneigten Leser ist nicht entgangen, dass ich als Teil der Initiative Neue Piratensatzung zwei Vorschläge gemacht habe, wie sich die vorhandenen liquid-demokratischen Elemente innerhalb der Piratenpartei ausbauen lassen:
  1. Die Piratenkontrolle, die es den Piraten ermöglicht, Entscheidungen des Vorstandes direkt zu kontrollieren.
  2. Piratenpapiere, also Positionspapiere, die von allen Piraten entschieden werden. Gegenwärtig macht dies zwischen den Parteitagen der Vorstand, wodurch ihm eine erhebliche politische Gestaltungsmacht zukommt, die nicht an den Willen der Parteimitglieder gebunden ist.
In der Diskussion mit anderen zu diesen Ideen war einer der am öftesten gehörten Aussagen: Das ist zwar eine sehr schöne Idee, ist aber mit dem Parteiengesetz nicht zu vereinbaren. Liquid Democracy lässt sich von Rechts wegen erst dann verbindlich einsetzen, wenn das Parteiengesetz geändert wird; die Piraten müssen sich also zunächst auf die 1.0-Art organisieren und durch das System kämpfen.

Mit dieser Einschätzung möchte ich hier und heute aufräumen, denn sie stimmt nicht. Zumindest nicht in der Absolutheit, mit der sie vorgebracht wird. Richtig ist, dass nicht jede denkbare Umsetzung von Liquid Democracy mit dem Parteiengesetz vereinbar wäre. Falsch ist es aber, daraus den Schluss zu ziehen, dass gar nichts geht. Wie so oft, kommt es ganz auf die konkrete Umsetzung an.

Parteien sind in ihrer inneren Organisation grundsätzlich frei
Werfen wir zunächst einen Blick in die Verfassung. Der Status der Parteien ist verfassungsrechtlich im Wesentlichen in Artikel 21 GG geregelt. Der entscheidende Satz, auf den es ankommt, ist dieser:
Ihre Gründung [die einer Partei, Anm. d. Verf] ist frei.
Ein normaler Mensch würde dies so verstehen, dass er hingehen und eine Partei gründen kann. Was natürlich stimmt.

Doch wie es @Schmidtlepp zutreffend formulierte (Ab Minute 14:10):
Das Problem bei Jura ist ja vor allen Dingen, dass es in einer Sprache geschrieben ist, die dem Deutschen ähnelt, damit aber nichts zu tun hat.
Und so steckt hinter diesen vier Worten noch einiges mehr, nämlich die Freiheitsgarantie der Parteien schlechthin.

Enthalten sind neben der Gründungsfreiheit zum Beispiel auch die Auflösungsfreiheit, die Freiheit der Wahl der Rechtsform, die Finanzierungsfreiheit, die Freiheit der Namenswahl, die Freiheit der Zielwahl, die Betätigungs- und Wettbewerbsfreiheit und eben auch die Organisationsfreiheit, also das Recht, sich innerparteilich nach eigenem Gutdünken zu organisieren.

"Grundsätzlich" bedeutet, dass das "Aber" auf dem Fuße folgt
Damit aber nicht irgendwelche Parteien aus dem Boden schießen, die sich innerparteilich nach dem Führerprinzip ausrichten, folgt das Aber natürlich auf dem Fuße:
Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen.
Der Gesetzgeber wiederum hat dann diese demokratischen Grundsätze mal etwas abgesteckt und das Ergebnis war das Parteiengesetz. Warum erzähle ich das alles? 

Weil sich daraus die erste, fundamentale Erkenntnis ergibt: Da sich die Parteien verfassungsrechtlich auf ihre umfassende Organisationsfreiheit berufen können, handelt es sich beim Parteiengesetz nicht um eine abschließende Regelung von dem was möglich ist, sondern um eine selektive Regelung einiger Teilbereiche. Das bedeutet: Auch Strukturen und Organe, die das Parteiengesetz nicht vorsieht, können zulässig sein.

Das sagt das Parteiengesetz (PartG) in § 8 II sogar ganz ausdrücklich:
Die Satzung kann weitere der Willensbildung des jeweiligen Gebietsverbandes dienenden Einrichtungen (Organe) vorsehen.
Die Grenzen der Organisationsfreiheit
Das bedeutet indessen nicht, dass man alles machen kann, wenn man nur Organe und Strukturen baut, die das Parteiengesetz nicht vorsieht. Natürlich hat die Organisationsfreiheit auch hier ihre Grenzen, die eine demokratische innere Ordnung sichern sollen.

Grenze 1: Notwendige Organe
Zum einen ist die Existenz zweier Organe vorgeschrieben: Gemäß § 8 I Satz 1 PartG benötigt jede Partei einen Vorstand und eine Mitgliederversammlung (Parteitag). Man spricht daher auch von notwendigen Organen.

Das bedeutet natürlich mehr, als dass nur die bloße Existenz eines Organs vorgesehen sein muss. Unzulässig wäre es ebenfalls, eine Mitgliederversammlung zwar einzurichten, ihr aber alle Kompetenzen wegzunehmen, sodass nichts übrig bliebe, als eine leere, tote Hülle. Daher sind der Mitgliederversammlung auch bestimmte Kompetenzen explizit zugewiesen. Diese sind in den §§ 9 III - V PartG aufgezählt.
  • die Parteiprogramme, die Satzung, die Beitragsordnung, die Schiedsgerichtsordnung, die Auflösung sowie die Verschmelzung mit anderen Parteien (Absatz 3)
  • die Wahl des Vorstandes und des Vorsitzenden (Absatz 4)
  • die Entlastung des Vorstandes (Absatz 5)
Diese Kompetenzen sind auch unentziehbar. Selbst wenn also die Mitgliederversammlung mit 100% der Stimmen beschließen sollte, auch nur eine dieser Kompetenzen abzugeben, wäre ein solcher Entschluss unwirksam. 
Ein Liquid Democracy System lässt sich daher nicht nutzen, um die aufgezählten Kompetenzen wahrnzunehmen, beispielsweise als Parteitagsersatz. Hier müssen andere Konzepte her, um dem rasanten Mitgliederwachstum der Partei Rechnung zu tragen, beispielsweise ein dezentraler Parteitag.

Über die ihr explizit zugewiesenen Kompetenzen hinaus hat die Mitgliederversammlung auch eine Allzuständigkeit, da sie das höchste Organ jeder Partei ist. Allzuständigkeit bedeutet, dass die Mitgliederversammlung in jeder Frage zuständig ist, auch wenn in Gesetz und Satzung gar nichts darüber steht.

Bei der Allzuständigkeit ist aber die Organisationsfreiheit der Parteien wieder sehr groß: Zwar lässt sich der Mitgliederversammlung auch die Allzuständigkeit an sich nicht entziehen. Es können aber einzelne Kompetenzen durch Satzung einem anderen Organ zugewiesen werden, wodurch sie aus der Allzuständigkeit herausfallen. Insofern ist die Partei in ihrer Entscheidung frei.

Grenze 2: Die Willensbildung in den Organen
Eine weitere Grenze der Organisationsfreiheit bilden die Grundsätze zur Willensbildung in den Organen, die im § 15 PartG niedergelegt sind. So muss eine demokratische Willensbildung gewährleistet sein, ein Minderheitenschutz bestehen und Wahlen müssen grundsätzlich geheim sein.

Zwar werden liquid-demokratisch bei den Piraten nur Abstimmungen und keine Wahlen durchgeführt. Allerdings vertreten an diesem Punkt vereinzelt Parteimitglieder die Auffassung, dass das Delegationselement, welches dem Konzept von Liquid Democracy inhärent ist, selbst eine Personenwahl sei. Eine Delegation müsse daher auch geheim möglich sein. Da dies aufgrund des Wahlcomputerdilemmas nicht realisierbar ist, ohne die Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit des Systems aufzuheben, sei Liquid Democracy mit dem Parteiengesetz nicht in Einklang zu bringen.

Indessen hält die Grundannahme, eine Delegation sei eine Personenwahl, einer eingehenden Untersuchung nur schwerlich stand. Zugegeben: Auf den ersten Blick erscheint sie plausibel - immerhin entscheidet man sich ja tatsächlich für einen Delegationsempfänger und "wählt" ihn damit aus.

Was die Wahl von der Delegation unterscheidet
Doch nicht jede Auswahl einer Person ist zugleich eine Wahl. Ein Charakteristika von Wahlen ist das Ziel, Positionen (beispielsweise ein Vorstandsamt) mit Personen zu besetzen. Jede Positionen verfügt über bestimmte Entscheidungskompetenzen und durch die Wahl legitimiert der Wähler eine bestimmte Person, diese Entscheidungskompetenzen auszuüben. Zugleich nimmt er durch Auswahl der Repräsentationsperson mittelbaren Einfluss auf die spätere Entscheidungsrichtung. 
Diese Auswahl ist für die Dauer der Wahlperiode unwiderruflich  und gilt generell für sämtliche Fragen. Da der Wähler auf die einzelnen zu entscheidenden Sachfragen keinen Einfluss hat, ist die Wahl damit die wichtigste und häufig sogar einzige Möglichkeit der politischen Einflussnahme

Genau daraus resultiert auch die Notwendigkeit der Geheimheit der Wahl: Wird der Wähler durch mangelnde Geheimheit in seiner Wahl beeinflusst, weil er soziale, politische oder rechtliche Sanktionen fürchten muss, dann wird er in seinen Möglichkeiten fundamental beschnitten, politisch Einfluss zu nehmen wie er es möchte.

Die Delegation in Liquid Democracy dagegen ist von einer Wahl wesensverschieden. Zum einen ist eine Delegation im Gegensatz zur Wahl jederzeit widerruflich. Zum zweiten ist sie inhaltlich differenziert abstufbar - von einer Globaldelegation bis hin zu einer Delegation, die lediglich die Entscheidung einer einzigen Sachfrage betrifft.

Der wichtigste Unterschied aber ist: Die Stimmdelegation stellt nicht die einzige Möglichkeit der politischen Einflussnahme in einem Liquid Democracy System dar; vielmehr kann man hier jederzeit in jeder Frage auch selbst abstimmen. Anders als bei einer Wahl ist daher die Delegation kein Muss für eine politische Beteiligung, sondern ein Kann
Wer nicht delegiert, weil jemand sehen könnte, an wen er delegiert, dem geht kein Stücken politische Teilhabe verloren. Er kann einfach immer genauso abstimmen, wie die Person, an die er gerne delegiert hätte und erreicht im Ergebnis genau dasselbe wie durch eine Delegation. Daher bedarf der Akt der Delegation auch nicht desselben Schutzes durch Geheimhaltung wie eine Wahl.

Nüchtern betrachtet beinhaltet eine Delegation nur die jederzeit widerrufbare Aussage, sich mit seiner Stimme der Entscheidung einer anderen Person anzuschließen. Damit passiert im Grunde nichts anderes als bei einem Parteitag, wo man sich in seiner Abstimmung nach einem Seitenblick am Abstimmungsverhalten einer inhaltlich qualifizierteren Person des Vertrauens orientiert. Auch dies kann man vernünftigerweise nicht als Wahl einstufen.

Somit ist eine Delegation keine Wahl und muss daher auch nicht geheim möglich sein. Insofern gehen die Piraten mit der starken Pseudonymisierung in Delegation und Abstimmung sogar über die rechtlichen Erfordernisse hinaus. 

Was ich, das sei hier kurz angemerkt, sehr gut finde. Die Identität jeder Person die sich politisch einbringt, sollte wenn gewünscht so stark geschützt werden, wie technisch und rechtlich möglich. Nur so lässt sich eine maximale Unabhängigkeit in der demokratischen Willensbildung sicherstellen.

Grenze 3: Die Bezeichnungspflicht
Die letzte Hürde die das Parteiengesetz aufstellt, ist ziemlich leicht zu nehmen: Ein Organ muss gemäß § 8 II Satz 2 PartG in der Satzung als Organ bezeichnet werden. Es besteht sicher Konsens dahingehend, dass Liquid Democracy daran jedenfalls nicht scheitert.

Das Wesentliche in aller Kürze
Fassen wir zusammen:
  • Eine Partei ist in ihrer Organisation grundsätzlich frei, solange ihre innere Ordnung demokratischen Grundsätzen entspricht.
  • Ein Liquid Democracy System lässt sich von Rechts wegen nicht als Parteitagsersatz nutzen.
  • Es ist jedoch zulässig, mit einem liquid-demokratischen Organ verbindliche Entscheidungen in allen Fragen zu treffen, die das Gesetz der Mitgliederversammlung nicht explizit zuweist.
  • Die Vorschläge Piratenkontrolle und Piratenpapiere sind zwei Ideen demokratischer Teilhabe, die sich genau in diesem Bereich bewegen.

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2 Kommentare:

Am/um 18. Februar 2011 um 07:00 , Anonymous Anonym meinte...

Wir sind bei einem Versuch mehr Basisdemokratie in unserem KV zu verankern eher an dem Teil des § 15 hängen geblieben, wo es heißt: "Bei Wahlen und Abstimmungen ist eine Bindung an Beschlüsse anderer Organe unzulässig." Das wird i.A. so ausgelegt, dass kein anderes Organ bindende Anweisungen an Vorstand & Parteitag geben kann. Grüße,
Oli

 
Am/um 18. Februar 2011 um 07:50 , Blogger Crackpille meinte...

Hi Oli,

Ja, der § 15 III PartG. Der ist ziemlich grottig formuliert und systematisch schlecht angeordnet. Daher ist auch umstritten, was genau er aussagen soll.

Die herrschende Meinung (bspw. Ipsen, ParteienG, § 15 Rn. 23, sehr ausführlich Kersten/Rixen, PartG, § 15 Rn. 39 ff.) allerdings vertritt die Auffassung, dass es hier um ein Verbot des imperativen Mandats bei Vertreterversammlungen handelt.
Die zur Vertreterversammlung entsandten Vertreter müssen in ihrer Entscheidung unabhängig von dem entsendenden Organ sein.
Mit geschulten Auge kann man auch erahnen, dass sich der von dir zitierte Satz 3 auf den vorangegangen Satz 2 bezieht.

Erhalten werden soll also bei Vertreterversammlungen die Entscheidungsfreiheit der entsandten Mitglieder, damit eine Willensbildung durch die Diskussion über Für und Wider auch tatsächlich erfolgen kann und das Ergebnis nicht von vorn herein feststeht. § 15 III S. 3 ist quasi das Parteienpendant zu Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG. (So zumindest die schöne Theorie; wie wir wissen, wird das durch Fraktionsdisziplin & Co unterlaufen).

Die amtliche Begründung zur Einführung dieser Norm (III/1509, 24) spricht ebenfalls davon, dass "die Norm die volle Entscheidungsfreiheit der Mitglieder" sicherstellen soll.

Anders, als es der Wortlaut nahelegen mag, postuliert daher § 15 III PartG kein grundsätzliches Verbot der Einflussnahme von einem Organ auf ein anderes. Insbesondere nicht, wenn es die Satzung zulässt.

Bezogen auf die von mir angeregten demokratischen Ansätze gibt es das Problem aber ohnehin nicht: Die Piratenkontrolle regiert dem Vorstand ja gerade nicht in seine Willensbildung hinein - die bleibt völlig frei. Lediglich nach Abschluss der Willensbildung besteht gegen die Entscheidung eine Art Veto-Recht.

 

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